Konzeptionelle Schwerpunkte in Freien Alternativschulen

Konzeptionelle Schwerpunkte in Freien Alternativschulen

Handreichung Freie Alternativschulen
Konzeptionelle Schwerpunkte und deren Umsetzung

Die Freien Alternativschulen verwirklichen bundesweit eine eigenständige Schulpädagogik. In den über 50 Jahren seit der Gründung der ersten Freien Alternativschule konnten reichhaltige Erfahrungen gesammelt werden. Konzeptionelle Ansprüche haben sich ausdifferenziert. Auch wenn die Praxis der Schulen Unterschiede aufweist, lassen sich doch eine Reihe von Grundsätzen und Methoden benennen, die charakteristisch sind für Freie Alternativschulen.
  1. Was Alternativschulen ihren Schüler*innen bieten
  2. Unterrichtsmethoden
  3. Teilnahme am Unterricht
  4. Mitbestimmung
  5. Projektarbeit
  6. Didaktik
  7. Gelernt wird immer
  8. Stundentafeln
  9. Lernstandserherbung
  10. Dokumentation

1. Was Alternativschulen ihren Schüler*innen bieten:

  • Freiräume, in denen jedes Kind seinen persönlichen Lernweg finden, seine Bedürfnisse und Interessen einbringen kann
  • Beachten von Gruppenprozessen - viel Platz für soziales sowie ökologisches Lernen
  • Geborgenheit in einem überschaubaren, friedlichen und lockeren Schulklima
  • kleine Klassen bzw. Lerngruppen mit einem günstigen Lernenden-Lehrenden-Verhältnis, das ein Eingehen auf jedes Kind ermöglicht. Schulgelände mit vielen Spiel- und Erlebnismöglichkeiten
  • engagierte Lehrer*innen, die sich mit alternativen Unterrichtsmethoden auskennen
  • individuelle Entwicklungsförderung statt "Lernen im Gleichschritt"

Alternativschulen wollen über die Aneignung von Wissen hinaus emanzipatorische Lernprozesse unterstützen, die für alle Beteiligten neue und ungewohnte Erkenntniswege eröffnen. Sie helfen so, Voraussetzungen zur Lösung gegenwärtiger und zukünftiger gesellschaftlicher Probleme zu schaffen.

2. Unterrichtsmethoden

An Freien Alternativschulen wird lehrer*innenzentrierter Unterricht nur sehr sparsam eingesetzt. Häufiger sind verschiedene Formen des von Schüler*innen selbst organisierten Lernens.

Jenseits kurzer Vorträge der Lehrenden, die im Besonderen der Einführung in neue Lernfelder dienen, findet man in Alternativschulen selten lehrer*innenzentrierte Unterrichtssettings. Eher arbeiten Schüler*innen z. B. in offenen Gruppen zusammen. Die Dynamik, die durch den Austausch untereinander entsteht, ist gewünscht. Erfolgreiches Lernen findet unter anderem dadurch statt, dass ein Lerninhalt selbst wiederum vermittelt werden kann (vgl. learning pyramid der Main-University). Schüler*innen fragen sich gegenseitig und machen so die Erfahrung, voneinander und miteinander zu lernen. Die Lehrer*innen begleiten diesen Prozess aufmerksam und achten darauf, dass sich keine dauerhaften Fehlermuster entwickeln.

Insbesondere in der Freiarbeit arbeiten die Schüler*innen sehr individualisiert an den Lerninhalten. Diese Form des Unterrichts verbindet den hohen Anspruch an eine breite Binnendifferenzierung mit einem individuell gestaltbaren Epochenunterricht. Ein*e Schüler*in kann durchaus über mehrere Wochen hinweg die Freiarbeitszeit für den Schriftspracherwerb nutzen und kommt so auf '6 Stunden Deutsch' pro Woche, auch wenn dies im Wochenplan als solches nicht explizit ausgewiesen ist.

Die Lehrer*innen haben u.a. die Aufgabe, die Lernentwicklung jedes*jeder einzelnen Schüler*in zu dokumentieren und zu begleiten. Dieses Begleiten beinhaltet auch das Anregen und Brücken bauen zu Lernthemen, die ohne Zutun ggf. zu kurz kommen könnten. Die Lehrer*innen sichern damit auch die Orientierung an den Rahmenlehrplänen ab, ohne diese für eine ganze 'Klasse' vorstrukturiert im Unterricht durchzuarbeiten.

3. Teilnahme am Unterricht

An Freien Alternativschulen besteht häufig keine Pflicht zur Teilnahme an Unterrichtsangeboten zu bestimmten Zeiten, vielmehr entscheiden die Schüler*innen, wann sie bestimmte Themen bearbeiten.

Die freiwillige Teilnahme an Lernangeboten macht zu einem (aus Sicht der lehrenden Person) frühen Zeitpunkt sichtbar, ob das Kind Interesse am dargebotenen Lerninhalt hat oder nicht. Die Entscheidung nicht mitzuarbeiten, ermöglicht dem Kind, seine Autonomie zu erfahren und nach alternativen Lernwegen Ausschau zu halten. Ein Stören des Unterrichts aufgrund von Unter- oder Überforderung ist nicht notwendig. Für die Lehrer*innen wird durch das Verhalten der jeweiligen Kinder sichtbar, ob das unterbreitete Lernangebot passend zu sein scheint. Aus dem früheren Standpunkt: 'Da muss ein Kind halt durch!' wird eine deutlich pädagogische Fragestellung: 'Was braucht es, um gut lernen zu können?'.

Es ist Aufgabe der Lehrer*innen die Lerninhalte des Rahmenplanes dergestalt aufzuschließen, dass alle Kinder erreicht werden. Das Wissen um die Vielfalt an Lerntypen ist Grundlage der Lehrer*innenausbildung. In Alternativschulen finden wir eine Didaktik, die dem Rechnung trägt. Die individuelle Begleitung der Schüler*innen beinhaltet auch Beobachtungsphasen. Unter ausgewählten Fragestellungen (z. B.: Wann kann sich Peter am besten konzentrieren?) kann gerade die Beobachtung außerhalb der Freiarbeit bzw. der Fachstunden entscheidende Erkenntnisse liefern.

4. Mitbestimmung

Yacoov Hecht, Gründer des Insitute for Democrativ Education in Tel Aviv/Israel, sagte einmal, wenn sich zwei Demokratische Schulen gleichen würden, hätte eine aufgehört zu denken.

Das lässt sich auch auf das Thema Mitbestimmung an Alternativschulen übertragen, keine zwei Alternativschulen haben identische Mitbestimmungsrechte – aber sie alle befürworten die Mitbestimmung der Schüler*innen (und Lehrer*innen) über die reinen Lerninhalte, -formen und -zeiten hinaus.

Mitbestimmung an Freien Alternativschulen kann vieles beinhalten: konkrete Fragen des Schulalltags, Organisation des Miteinanders, Erstellen von Regeln, Bestimmen von Konsequenzen, Kauf von Materialien, Aufnahme von Schüler*innen, Einstellung von Lehrer*innen und anderes mehr.

5. Projektarbeit

An Freien Alternativschulen werden viele Lernziele/Kompetenzen in komplexen Projekten integriert vermittelt. Hier verbindet sich fächerübergreifendes Arbeiten mit Projektarbeit. Eine mehrwöchige Projektphase in der ein englischsprachiges Theaterstück entwickelt und eingeübt wird, verbindet vielfältige Aspekte des Rahmenplanes. Englisch wird vertieft und angewendet, Kulissen werden erstellt (berechnet, gefertigt, gestaltet), Licht- und Tontechnik genutzt, Werbung für das Stück gemacht (zweisprachig), Kostüme werden gefertigt und das Stück wird geprobt. Es verbinden sich mathematisch (Kulissenbau), sprachliche (Text/Einladung), naturwissenschaftliche (Licht-Schatten, Ton-Schall) und handwerkliche (Werken, Stoff) Aspekte mit einem Inhalt, der wiederum seine Entsprechungen im Rahmenplan findet (Stadt, Familie, Reisen usw.).

Ein solch übergreifendes Arbeiten wird durch die Lehrer*innen dokumentiert und so können individuelle Lernschritte und -entwicklungen erfasst werden.

6. Didaktik

Ein vorstrukturierter und vorgeplanter Unterricht findet in Alternativschulen nur in seltenen Fällen statt.

Die binnendifferenzierte und individualisierte Arbeitsweise erfordert es, mit einem hohen Maß an Flexibilität von Seiten der Lehrer*innen in die Lernangebote zu gehen. Der Nachbereitung fällt hierdurch ein besonderes Gewicht zu, da sie der Verbesserung und Weiterentwicklung der Angebote dient.

Die Didaktik der Alternativschulen zeichnet sich durch ein hohes Maß an Methodenvielfalt aus, die situativ eingesetzt wird. Eine geplante Stunde zum Thema 'Wie schreibe ich einen Brief?', die in eine kleine Geschichte eingebettet die Kriterien des Briefeschreibens beinhaltet, kann durchaus auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, wenn ein*e Schüler*in den Tod eines Haustieres zu beklagen hat. Es ist dann an dem/der Lehrer*in die Trauer einzubinden und gemeinsam mit der Gruppe eine Fragestellung zu entwickeln. In dem hier genannten Beispiel ergibt sich schnell ein Philosophieren mit Kindern (Lebenskunde) und es könnte aufbauend auf die Geschichte 'Die schönsten Beerdigungen der Welt' in dem Verfassen von 'Werbeanzeigen' münden. Unabhängig vom thematischen Schwerpunkt des Unterrichtes wäre der mündliche Sprachgebrauch, das Verfassen eines eigenen Textes, die Auswertung und die Rechtschreibkontrolle gewährleistet. Die Erfahrung in Alternativschulen zeigt, dass ein solch flexibler Umgang mit Unterrichtsplanungen mehr von den Lehrer*innen abverlangt, zugleich aber den Schüler*innen mehr Raum für ihre Themen bietet und somit näher an ihren Interessen und Gefühlen ist.

7. Gelernt wird immer

In Alternativschulen haben Schüler*innen Zeit zum Lernen. Der gesamte Schultag steht zur Verfügung, wenn es um das Erweitern und Systematisieren von Wissen geht. Auf experimentellen, eigenverantwortlichen oder auch punktuell angeleiteten 'Lernpfaden' erschließen sich Kinder und Jugendliche ihre Welt. Dabei stoßen sie auf Hindernisse, an deren Überwindung sie arbeiten. Ein 'leseschwaches' Kind begeistert sich beispielsweise dermaßen für die Harry-Potter Bücher, dass es mehr Motivation zum Lesenüben hat. Dem*der Lehrer*in fällt die Aufgabe zu, dieses Interesse wahrzunehmen und die Lernschritte und -inhalte zu systematisieren.

Das kann zur Folge haben, dass eigens für diese*n Schüler*in Lernmaterialien erstellt werden, die an sein*ihr Interesse an Mr. Potter anknüpfen. Hier wird deutlich, dass Binnendifferenzierung in Alternativschulen nicht einfach das Anbieten von Lerninhalten in drei Lernniveaus bedeutet. Darüber hinaus kann phasenweise sehr individualisiert gearbeitet werden. In Kombination mit Phasen des kooperativen Lernens in Kleingruppen wird Lernen in vielfältiger Form erfahrbar.

In diesem Sinne besucht ein*e Schüler*in an einer Alternativschule nicht nur Fachunterricht, er*sie geht den ganzen Tag zur Schule und hat ganztägig die Möglichkeit fach- und themenbezogen zu lernen.

8. Stundentafeln

Die Entscheidung für prozesshaftes, binnendifferenziertes und individualisiertes Lernen in Alternativschulen hat die Konsequenz, dass es keine absolute Vorplanung einer Schulwoche gibt oder eine solche Planung gar für ein ganzes Halbjahr Bestand haben könnte.

Die Zeitpläne in Alternativschulen dienen der Orientierung und Planung der aktuellen Lernvorhaben, lassen viel Platz für selbstbestimmtes Lernen der Schüler*innen und stellen sicher, dass fachliches Lernen im Beisein von Lehrer*innen stattfinden kann.

Grundsätzlich sind auch alle nicht als Fachunterricht, Projektarbeit, Kurs oder Freiarbeit ausgeschriebenen Zeiten als Lernzeiten zu verstehen. An Phänomenen, die im Schulalltag (zum Beispiel in der Holzwerkstatt) entstehen, werden immer wieder Inhalte des Rahmenplanes exemplarisch verdeutlicht. Statt Lernanlässe mittels eines initiierten Unterrichts zu konstruieren, knüpfen Lehrer*innen und Schüler*innen an für sie relevante Alltagsphänomene an.

Beim Bau eines Autos in der Holzwerkstatt werden Inhalte des Mathematikunterrichts (Geometrie, Flächenberechnung, Maßeinheiten) gelernt. Die besondere Aufgabe an die Lehrer*innen ist es in diesem Zusammenhang, durch die Wahl der richtigen Fragen die Schüler*innen auf die Verbindung zu mathematischen Fragestellungen hinzuweisen.

Ein in Form eines Stundenplanes auf Monate voraus getakteter und verplanter Unterricht, der den Schüler*innen zur Abarbeitung verbindlich vorgesetzt wird, widerspricht der Pädagogik an Alternativschulen. Hier wird 'vom Kind aus' gedacht und prozesshaft geplant.

9. Lernstandserherbung

Die Ermittlung des Lernstandes erfolgt in der Regel mittels der aktiven Beobachtung und dem gemeinsamen Gespräch mit den Schüler*innen.

Lernziele werden benannt und deren Erarbeitung gemeinsam ausgewertet. Ein*e Schüler*in, der*die gegen Ende des ersten Schuljahres in Deutsch so weit fortgeschritten ist, dass er/sie erste eigene Texte schreibt, wird durch das gemeinsame Lesen der Texte in die Auswertung mit einbezogen. Ist der Erzählfaden schlüssig? Gibt es Wortwiederholungen? Findet sich eine Spannungskurve? Wurden formale Kriterien berücksichtigt? Wie ist die Rechtschreibentwicklung? Woran müsste noch geübt werden? Das scheinbar kurze Gespräch zu dem erarbeiteten Text lässt viele Rückschlüsse auf den Lernstand und anstehende Lerninhalte zu. Im Zentrum steht immer nach Möglichkeit die Freude am Lernen (hier: am Schreiben) aufrecht zu erhalten.

Hier finden grundlegende Lernprozesse statt, die durchaus nach dem Mittagessen an einem Tisch auf dem Schulhof stattfinden können. Die Schüler*innen fühlen sich nicht bewertet, sondern gesehen. Die Lernmotivation wird nicht durch negative Symbole (schlechte Noten, traurige Smileys und dergleichen) getrübt.

10. Dokumentation

In Alternativschulen kommt einer sorgfältigen Dokumentation große Bedeutung zu.

Für alle fachlichen und sozialen Kernbereiche wird der aktuelle Lernstand unter Berücksichtigung der zurückgelegten Entwicklung erfasst. Dies kann durch die kollegiale Besprechung im Team der Lehrer*innen stattfinden, durch schuleigene Evaluationsmethoden oder in individueller Arbeitsweise.

So werden im Sinne eines Portfolios Werke und Ergebnisse der Schüler*innen gesammelt. Die Dokumentation erfolgt durch die Lehrer*innen, oft in Zusammenarbeit mit den Schüler*innen. Konkretisiert wird dies in den jeweiligen Schulkonzepten.

Die Überlegungen zur Dokumentation sind wichtiger Bestandteil der pädagogischen Konzepte, verschafft sie doch den Überblick über die Lernentwicklung, verknüpft soziale und fachliche Beobachtungen, macht einen Austausch im Kollegium erst möglich und dient bei einem möglichen Schulwechsel als Bewertungsgrundlage.

 


Wir danken Dipl. Päd. Matthias Hofmann (u. a. Autor von „Geschichte und Gegenwart Freier Alternativschulen“) für die Zuarbeit.